/ Hartz IV: Das kann weg, das muss weg https://www.deutschlandfunk.de/buergergeld-hartz-iv-100.html / Bürgergeld Hartz IV: Das kann weg, das muss weg Nach 17 Jahren Hartz IV soll nun das Bürgergeld kommen und das sei auch gut so, meint Birgid Becker. Vorausgesetzt, es werde nicht ein mühsam übermaltes Hartz-IV-Modell. Dinge wie Leben, Auskommen und Würde müssten neugestaltet werden. Passiere dies nicht, bleibe Hartz IV – auch wenn es künftig anders heiße. Von Birgid Becker | 24.07.2022 - 06:05 Uhr - Kommentar txt:META Der Arbeitsmarkt sei dieser Tage einer des Mangels, meint Birgid Becker. Wer jetzt nicht unterkomme, der müsse unterstützt und nicht angetrieben werden. (picture alliance / Fotostand / K. Schmitt) pic:META: Außenaufnahme der Agentur für Arbeit in Nürnberg pic:RIGHTS (picture alliance / Fotostand / K. Schmitt) pic:URI: https://assets.deutschlandfunk.de/a7427bb3-409a-439b-8df7-543f1124f294/1280x720.jpg?t=1658671104619 War es das mit Hartz IV? Siebzehn Jahre nach der Einführung des umstrittensten Teils von Gerhard Schröders Agenda 2010 kündigt der sozialdemokratische Arbeitsminister Hubertus Heil an: Hartz IV kann weg. 17 Jahre lang die größte politische Bürde auf dem Buckel der ehrwürdigen Sozialdemokratie – jetzt wird sie abgeschüttelt. Man meint, fast bildlich vor Augen zu haben, wie sich die alte Tante SPD aus der Hüfte hochstemmt, aufrichtet, wächst, die Augen gen Himmel gerichtet. Befreit vom Makel, für die härtesten sozialen Zumutungen in der Nachkriegsgeschichte verantwortlich zu sein. Das ist schon was. Könnte schlechter laufen. Also: Hartz IV kann weg und das Bürgergeld kann kommen. Aber stimmt das? Kann Hartz IV weg? Gemessen daran, dass es keine Massenarbeitslosigkeit mehr gibt, die zum Gedanken verführt, man müsse Arbeitslose auch mal drängeln und piesacken – vornehm verpackt als „fordern“ –, gemessen daran, ja, Hartz IV kann weg. Der Arbeitsmarkt dieser Tage ist einer des Mangels. Es fehlen Menschen überall und allerorten. Geld in einer offenen Hand GrundsicherungDie Pläne der Ampel für das neue Bürgergeld Johannes Vogel (FDP), Generalsekretär der nordrhein-westfälischen FDP GrundsicherungFDP kritisiert Heils Pläne zum künftigen Bürgergeld Hartz IV ist das Zerrbild eines Sozialstaates Wer jetzt nicht unterkommt, der muss nicht gefordert werden. Der braucht Hilfe, Unterstützung und nicht als Antreiber die Angst vor dem sozialen Abstieg. Denn das ist es ja, was Hartz IV vor allem ausmacht: Die Angstspirale, dass auf Arbeitslosigkeit sehr schnell der soziale Abstieg folgt. Erspartes weg, Wohnung weg, Auto weg. Dass es eher selten dazu tatsächlich kam, dass in den letzten Jahren vor allem ältere Arbeitslose längere Fristen vor dem Hartz-IV-Bezug genossen – geschenkt. Hartz IV ist das Zerrbild eines Sozialstaates, nehmend statt gebend, fordernd statt helfend. Das kann weg, das muss weg – und in der Tat: So wie die Konturen des neuen Bürgergeldes skizziert sind, soll das auch weg. Vermögen bis 60.000 Euro sollen nicht angetastet, das Schonvermögen soll erhöht werden, und das Wohnen soll bleiben, wie es ist, in den ersten beiden Jahren des Bürgergeld-Bezugs. Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt soll vertrauensvoller laufen, es soll eher weitergebildet als auf einen Aushilfsjob abgeschoben werden, längere Ausbildungen sollen finanziert werden. Alles Pläne, die aus dem Bürgergeld tatsächlich mehr machen könnten als ein modifiziertes Hartz-IV-Nachfolge-Modell. Ja, Hartz IV kann weg. Die Silhouette einer Frau, die vor einer beleuchteten Scheibe sitzt und auf ihr Smartphone schaut. Geplantes Bürgergeld Wie die Politik psychisch kranke Langzeitarbeitslose ignoriert Am 1. Januar soll das Bürgergeld Hartz IV ablösen und mehr gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Langzeitarbeitslosen mit psychischen Erkrankungen helfe das kaum, kritisiert taz-Chefredakteurin Ulrike Winkelmann. Es gehe um Hunderttausende Menschen. Sanktionen als Symbol wofür? Wenn es die FDP nicht gäbe. Dass die Freidemokraten sich auf eine Weiterführung des alten Hartz-Sanktionsregimes versteifen – des sehr alten, denn aktuell sind die meisten Sanktionen ja auf Pause gestellt – das gehört zu den Tiefpunkten sozialpolitischer Debattenkultur. Neun von zehn Menschen im Hartz-IV-Bezug kommen nie mit Sanktionen in Kontakt. Mit solch einer Erkenntnis lassen sich Freidemokaten zitieren, die einen Atemzug nach dem alten Sanktionssystem rufen. So wenig Sanktionen im Alltag der Arbeitsverwaltung eine Rolle spielen, so wichtig sind sie wohl als Symbol – für was eigentlich? Für ein arg reduziertes Gerechtigkeitsempfinden, das Bedürftigkeit nur in Kombination mit Druck auf die Bedürftigen unterstützt? Arme Freidemokratie, die ihren Anhängerinnen und Anhängern nicht mehr an Großmut und Klugheit zutraut! Ja, Hartz IV kann weg – und damit auch das Sanktionsregime, das im Bürgergeld – so viel Populismus wollen dann auch die Sozialdemokraten wagen, – das im Bürgergeld erst nach einer sechs-Monats-Frist in Erscheinung tritt. Ein Paketbote der eingequetscht zwischen Kistenstapeln Pakete ausliefert. Karriere eines BegriffsAlles prekär oder was? 04:22 Minuten18.07.2022 Ob das Bürgergeld aber tatsächlich ein Neustart in der Sozial- und Arbeitsmarkt-Politik wird oder am Ende nicht doch ein mühsam übermaltes Hartz-IV-Modell – die größten Fragezeichen dahinter setzen die SPD und der sozialdemokratische Bundesarbeitsminister selbst. Bislang nämlich ist alles, was zur künftigen Höhe der Regelsätze zu vernehmen ist, mehr als vage. Solange aber nicht klar ist, wie ein menschenwürdiges Existenzminimum zu bemessen ist, solange nicht feststeht, wie ein zeitnaher Ausgleich von Preissteigerungen ausgestaltet werden soll, so lange sind alle Ankündigungen, dass die Hartz-IV-Ära zu Ende geht, blass und luftleer. Da hilft die Zusicherung von Hubertus Heil wenig, dass die Regelsätze steigen werden. Das Problem greift viel tiefer, es umfasst die Grundsicherung, die Grundrente, das steuerfreie Existenzminimum. Leben, Auskommen, Teilhabe, Würde – all das muss auf der Schattenseite der Gesellschaft neugestaltet werden. Passiert das nicht, bleibt Hartz IV. Auch wenn es künftig anders heißt.