Bundesministerium für Arbeit und Soziales spielt mit dem Rechtsstaatsprinzip Zu den vom BMAS beabsichtigten Änderungen des Verfahrensrechts im Sozialgesetzbuch Mit dem Referentenentwurf zum 9. Änderungsgesetz des Zweiten Sozialgesetzbuches versucht das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Kernkompetenzen des des Bundessozialgerichtes auszuhebeln. 1. Einführung Kaum ein anderes Gesetz der Bundesrepublik war in den vergangenen zehn Jahren so vielen Änderungen unterworfen, wie das Zweite Sozialgesetzbuch, das das landläufig als 'Hartz IV' bekannte Arbeitslosengeld 2 regelt. Die seit Einführung bestehende Änderungswut mag manchem Versäumnis bei dessen überhasteter Einführung geschuldet sein. Hierauf wird sich der Gesetzgeber bei der jetzt anstehenden neunten fundamentalen Novellierung jedoch nicht mehr berufen können. Ähnlich wie die Regierungskoalition des Kabinetts Schmidt II, die die zwölf Sozialgesetzbücher von 1978 bis 1980 konsolidierte und neue sozialpolitische Aspekte aufgenommen hat, dauerte allein das Vorbereitungsverfahren für das Neunte Änderungsgesetz der allein durch die Sozialminister und -senatorinnen der Länder im November 2012 konstituierten Bund-Länder-Arbeitsgruppe über ein Jahr an. (FN01) Vergleichsweise überlegt, sollte man meinen, setzt man die 2002 gerade mal ein halbes Jahr lang tagende Hartz-Kommision als Maßstab an. Über die Motive einer Vorbereitung des Gesetzentwurfes durch die Bund-Länder Arbeitsgruppe lässt sich indes nur spekulieren. Während die Bundesregierung noch im Juli 2014 den ersten Durchgang der Zustimmung durch den Bundesrat für den Dezember 2014 plante (FN02), verweigerte sie schliesslich dem Zeitplan hinterher hinkend noch am 10.12.2014 jegliche Auskunft über ihr Gesetzesvorhaben. Denn die Bundesregierung sei nicht verpflichtet, Auskünfte über noch nicht abgeschlossene interne Willensbildungsprozesse zu erteilen (FN03). Über die vom BMAS beabsichtigten Änderungen wurden allein die Mitglieder der Regierungsparteien vorab im Rahmen einer mündlichen Unterichtung am 10.09.2014 im Bundesministerium für Arbeit und Soziales informiert. Mit der Einrichtung der Arbeitsgruppe dürfte hinsichtlich des zustimmungsbedürftigen Gesetzgebungsverfahrens beabsichtigt worden sein, die durch die Bund-Länder Arbeitsgruppe konstituierten Vorschläge in Gestalt des durch die Bundesregierung noch aufzugreifenden Referentenentwurfes weitestgehend widerstandslos durch den Zweiten Durchgang im Bundesrat laufen zu lassen, ohne durch die Länder einen Anruf des Vermittlungsausschusses befürchten zu müssen. Bei der nunmehr für die Bundesregierung anstehenden Formulierung eines Gesetzentwurfes steht deshalb zu befürchten, dass sie sich weitestgehend am gerade erschienenen Referententwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 12. Oktober 2015 orientieren wird, der die Vorschläge der Bund-Länder Arbeitsgruppe unter Einbeziehung ministerieller Interessen aufgreift. Das BMAS war ständiges Mitglied der Bund-Länder Arbeitsgruppe. Deren 36 Vorschläge wurden vor ihrer Veröffentlichung nicht nur erneut mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales abgestimmt, sondern im darauf folgenden Referentenentwurf manifestiert und um 17 weitere Gesetzesänderungsvorhaben erweitert. Die im Referentenentwurf des BMAS beabsichtigten Änderungen bedeuten nicht an jeder Stelle eine Verschlechterung der Rechte von Erwerbslosen. So rudert das Ministerium in wenigen Details sogar wieder zu den alten Regelungen der vor 2005 noch im Dritten Sozialgesetzbuch geregelten Arbeitslosenhilfe zurück. Beispielsweise aus verwaltungsökonomischen Gründen beim nunmehr wiederkehrenden jährlichen Bewilligungszeitraum oder auch in der Erkenntnis, dass wegen einer kleinen Pflichtverletzung, wie einer nicht geschriebenen Bewerbung, der unmittelbare und vollständige Leistungsausschluss inklusive der Miete bei Jugendlichen unter 25 Jahren dem pädagogisch anmutenden Euphemismus des 'Forderns & Förderns' nicht vollständig gerecht wird. 2. In medias res Insbesondere zu den Änderungen im Sanktionsrecht für Arbeitslose wie auch zu den materiellen Änderungen im Leistungsrecht sind bereits zahlreiche Stellungnahmen, Hintergrundmaterialien und Fachpapiere erschienen (FN04). Der als Dozent für Sozialrecht und in der Erwerbslosenbewegung tätige Harald Thomé machte bereits kurz nach Veröffentlichung des Referentenentwurfes des BMAS darauf aufmerksam, dass dieser sowohl offene wie in der Gesetzesbegründung nicht genannte verfassungswidrige Gesetzesänderungen enthalte. (FN05) Auch der Deutsche Caritasverband bringt seine Bedenken zu einer Änderung des Verfahrensrechts zum Ausdruck (FN), die geeignet wäre, bereits das Änderungsgesetz jedenfalls hinsichtlich dieser Vorschrift auf dessen Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Gegenstand der Betrachtung ist ein Ausnahmetatbestand des sozialrechtlichen Überprüfungsgrundsatzes, der in § 44 des Zehnten Sozialgesetzbuches normiert ist und der Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes dient. Vorgesehen war dies für Fälle, in denen der Behörde im Einzelfall die Rechtswidrigkeit eines den Hilfebürftigen belastenden Verwaltungsaktes bekannt wird, gegen den er aber wegen der Bestandskraft des Verwaltungsaktes aufgrund des Verstreichens der Widerspruchsfrist nicht mehr vorgehen kann. Der Überprüfungsgrundsatz fand bereits 1980 bei der Konsolidierung der Sozialgesetze durch die Regierung Schmidt Einzug in das Sozialgesetzbuch. So wurde in der teleologischen Gesetzesbegründung zum damals noch in § 42 SGB X geregelten Uberprüfungsantrag ausgeführt: 'Absatz 1 Satz 1 verallgemeinert einen Grundsatz, der in den §§ 627, 1300 RVO, § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und § 93 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) niedergelegt und für das gesamte Sozialrecht geboten ist'(FN). Fast 30 Jahre hatte die dem allgmeinen Verwaltungsverfahrensrecht entnommene Regelung auch für das gesamte Sozialrecht Bestand. Ein Ausnahmetatbestand wurde zunächst für den Rechtskreis des Arbeitslosengeldes 1 normiert, der mit Wirkung zum 1. April 2011 durch einen Rechtsfolgen FN01 Bericht des Deutschen Städtetages über die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts – einschl. des Verfahrensrechts – im SGB II, 56.10.01 D - M 4399 vom 12. September 2014 FN02 Bundeskanzleramt, PP-142 75-Le 1 VS-NfD - Vorhabendokumentation der Bundesregierung - Datenblatt Nr. 1811031 - vom 22. Juli 2014 FN03 Antwort der Bundesregierung auf ein kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE zum Zeitplan zur Behandlung des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Bundestag Drucksache 18/3508 vom 12.12.2014 FN04 Einen weit umfassenden Überblick liefert derzeit der Erwerbslosenverein tacheles e.V. auf seiner Webseite http://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/aktuelles/d/n/1902/ FN05 Thomé Newsletter 29/2015 vom 07.11.2015, Ziff. 1 FN Bundestag Drucksache 8/2034 vom 04.08.1978, zu § 42, S. 34 FN Deutscher Caritasverband e.V. im 'Fachpapier Rechtsvereinfachung im SGB II' vom 20. Juli 2014, S. 18 f.