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. Was ich gerne früher über
Deutschland gewusst hätte
Ai Weiwei auf hyperallergic.com

Am 11. Juli bat mich die Herausgeberin des Zeit Magazins, kurze Reflexionen zum Thema der Überschrift hier oben beizusteuern. Ich verfasste den Beitrag und reichte ihn ein.

Kurz vor der geplanten Veröffentlichung wurde ich darüber informiert, dass der Chefredakteur des Zeit Magazins die Kolumne geprüft, ihre Veröffentlichung abgesagt und stattdessen neue Beiträge bei anderen Autoren in Auftrag gegeben hatte. mehr Modifikation Ai Weiweis "Perspektivstudie - Reichstag, Berlin (1999)" | Original: hyperallergic Am 11. Juli lud mich die Herausgeberin des Zeit Magazins, Elisa Pfleger, über unsere Galerie ein, für eine Kolumne der kommenden Sommerausgabe 15–20 kurze Reflexionen zum Thema „Was ich gerne früher über Deutschland gewusst hätte“ beizusteuern. Ich verfasste den Beitrag und reichte ihn ein. Am 23. Juli antwortete ich auf die Bitte des Zeit Magazins um zusätzliche Reflexionen in einem persönlicheren und heitereren Ton mit weiteren Beiträgen. Zwei Tage später erhielten wir zunächst eine gekürzte und redigierte Version von Pfleger und wurden unmittelbar danach darüber informiert, dass der Chefredakteur des Zeit Magazins , Johannes Dudziak – Pflegers Vorgesetzter – die Kolumne geprüft, ihre Veröffentlichung abgesagt und stattdessen neue Beiträge bei anderen Autoren in Auftrag gegeben hatte. Was ich gerne früher über Deutschland gewusst hätte Ai Weiweis Perspektivstudie in the Zeit's Hyperallergie | October 20, 2025 Eine Gesellschaft, die von Vorschriften regiert wird, in der es jedoch an individuellem moralischen Urteilsvermögen mangelt, ist gefährlicher als eine Gesellschaft, in der es überhaupt keines gibt. Eine Gesellschaft, die Gehorsam schätzt, ohne Autorität in Frage zu stellen, ist dazu bestimmt, korrumpiert zu werden.

Eine Gesellschaft, die Fehler zugibt, sich aber weigert, über deren Ursprünge nachzudenken, besitzt einen Geist, der so stur und stumpf ist wie Granit.

Hier, in einer verlassenen Straße, halten die Menschen brav an einer roten Ampel. Kein Auto weit und breit. Das, dachte ich einmal, ist das Zeichen einer hochentwickelten Gesellschaft. Im Kern der Bürokratie liegt die kollektive Anerkennung der Machtlegitimation, und deshalb geben die Einzelnen ihr moralisches Urteil auf – oder haben vielleicht nie eines entwickelt. Sie verzichten auf die Herausforderung. Sie verzichten auf den Streit. Wenn Gespräche vermieden und Themen nicht erwähnt werden dürfen, leben wir bereits unter der stillen Logik des Autoritarismus.

Wenn die Mehrheit glaubt, in einer freien Gesellschaft zu leben, ist das oft ein Zeichen dafür, dass diese Gesellschaft nicht frei ist. Freiheit ist kein Geschenk; sie muss der Banalität und der stillen Komplizenschaft mit den Mächtigen entrissen werden.

Wenn Menschen spüren, dass ihre Macht nicht mehr in Frage gestellt werden kann, lenken sie ihre Energie in triviale Streitigkeiten. Und diese Trivialitäten reichen zusammengenommen aus, um die Grundlagen der Gerechtigkeit einer Gesellschaft zu untergraben.

Wenn öffentliche Ereignisse von großer Tragweite – wie der Bombenanschlag auf die Nord Stream-Pipeline – von Regierung und Medien mit Schweigen quittiert werden, wird dieses Schweigen selbst erschreckender als jede Atombombe.

Fakten werden teilweise anerkannt, bewusst vergessen oder durch kollektives Schweigen verschleiert. Und so wiederholen wir Katastrophen – immer wieder, in Zyklen.

Wenn die Medien zu Dienern der öffentlichen Meinung werden oder Konflikte vermeiden, um die Gunst der bestehenden Mächte zu wahren, werden sie zu Komplizen des Autoritarismus. Was wir als Lügen bezeichnen, sind nicht immer Tatsachenverdrehungen. Politische Führer treffen Entscheidungen, die von Irrtümern und Fehlern geprägt sind. Das spiegelt den politischen Zeitgeist einer Gesellschaft wider, in der die meisten ihr Bewusstsein und sogar ihre grundlegende Fähigkeit zu handeln aufgegeben haben – und es den Politikern ermöglichen, ihre Fehler in ihrem Namen auszuüben. Wenn eine Gesellschaft sprachliche Unter-schiede oder kulturelle Missverständnisse als Vorwand für Ausgrenzung nutzt, ist sie zu einer heimtückischeren Form des Rassismus ge-worden. Dabei handelt es sich nicht um eine politische Meinung, sondern um eine Haltung, ein Blutfleck, der wie Gene weitergegeben wird.

Bürokratie ist nicht nur träge. Sie ist kultureller Hohn. Sie lehnt die Möglichkeit zum Dialog ab. Sie besteht darauf, dass in der Politik kodifizierte Unwissenheit, egal wie falsch und unmenschlich sie ist, der beste Widerstand gegen sozialen Aufstieg und moralischen Fortschritt bleibt. In einer solchen Gesellschaft ist die Hoffnung nicht fehl am Platz. Sie ist erloschen.

In der umgebenden Atmosphäre sieht man keine Kultur, sondern Selbstgefälligkeit; keine Kunst, sondern Abschottung und kollektive Ehrfurcht vor der Macht. Was fehlt, ist Aufrichtigkeit – Ehrlichkeit der Gefühle und Absichten. In einem solchen Umfeld ist es nahezu unmöglich, Kunst zu schaffen, die sich mit wahren menschlichen Gefühlen oder moralischer Auseinandersetzung auseinandersetzt.

Ein Ort, an dem Selbsterkenntnis routinemäßig verworfen und individuelle Handlungsfähigkeit ausgelöscht wird, ist ein Ort, der unter eisernen Mauern des Autoritarismus lebt. Ich habe keine Familie, kein Vaterland und habe nie erfahren, was es heißt, dazuzugehören. Ich gehöre nur mir selbst. Im besten Fall sollte dieses Selbst jedem gehören. Ich weiß noch immer nicht, was Kunst ist. Ich hoffe nur, dass das, was ich mache, ihre Grenzen berührt, solange es scheinbar keinen Bezug zu irgendetwas hat. Und in Wahrheit hat es im besten Fall keinen Bezug zu mir, denn das „Ich“ verschmilzt bereits mit allem. Sind die Dinge, die man in Galerien, Museen und Wohnzimmern von Sammlern findet, Kunst? Wer hat sie als solche deklariert? Auf welcher Grundlage? Warum bin ich in ihrer Gegenwart immer misstrauisch? Werke, die sich der Realität entziehen, die vor Auseinandersetzungen, Kontroversen und Debatten zurückschrecken – seien es Texte, Gemälde oder Performances – sind wertlos. Und seltsamerweise sind es gerade diese wertlosen Werke, die die Gesellschaft am ehesten feiert. Jetzt verstehe ich: Die Menschen sehnen sich nach Macht und Tyrannei, so wie sie sich nach Sonnenschein und Regen sehnen, denn die Last der Selbsterkenntnis fühlt sich wie Schmerz an. Manchmal sogar wie eine Katastrophe. In den meisten Fällen wählt die Gesellschaft die Egoistischsten und am wenigsten Idealistischen unter uns aus, um die Arbeit zu übernehmen, die wir „Kunst“ nennen, weil sich bei dieser Wahl jeder sicher fühlt. Time Will Tell (2025) Musik bei Inas Nacht (White House) Time Will Tell Celeste (2022) Außerdem In Berlin stoße ich auf allgegenwärtige Schweinshaxe und Schnitzel und kann kaum glauben, dass ein so hoch entwickeltes Industrieland eine so eintönige Auswahl an Zutaten bietet. Noch verblüffender ist die plötzliche Ausbreitung chinesischer Restaurants – die meisten davon basieren auf Nudelgerichten und bedienen ein kulinarisches Niveau, das jeder Chinese problemlos zu Hause erreichen könnte. Die Auswahl an Speisen und Zubereitungsarten ist hier so begrenzt, dass sich Menschen aus aller Welt gezwungen fühlen, Restaurants zu eröffnen: vietnamesische, thailändische, türkische – was auch immer. Doch das wirklich Erschreckende? Die schiere Anzahl chinesischer Restaurants. Ich vermute, sie glauben, dass die deutschen Kunden angerannt kommen, egal was auf dem Teller landet.

Vor manchen dieser Restaurants bilden sich sogar lange Schlangen – und doch hat das Essen, das sie servieren, kaum etwas mit erkennbar chinesischem Essen zu tun.

Mein Lieblingsessen in Deutschland ist Brot und Wurst – solche mit einem so ausgeprägten Charakter findet man einfach nirgendwo anders. Ich frage mich, warum sich so viele Leute freiwillig in eine kleine Bar drängen, nur um ein langes Gespräch zu führen. Da ich die Sprache nicht spreche, kann ich mir nur vorstellen, dass die jungen Leute, die nach Berlin kommen, vom Clubbing sprechen. So etwas war in den 70er und 80er Jahren in den USA der letzte Schrei. Die Deutschen sind vielleicht das einzige Volk, dem Humor am allerwenigsten fehlt. Das könnte an ihrer tiefen Ehrfurcht vor der Vernunft liegen. Man muss sich nur den Berliner Flughafen oder die Werbung für Mercedes-Benz ansehen – man bekommt das Gefühl, dass ihr Mangel an Humor selbst zu einer Art immensem Humor geworden ist. Ai Weiwei ist Künstler und Aktivist, der handwerkliches Geschick mit konzeptioneller Kreativität verbindet,
um über aktuelle gesellschafts- und geopolitische Verhältnisse nachzudenken.