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to top Aus dem "Zigeunerlager" im Hinterland
24. December 2015

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Der Schauspieler und Schriftsteller Sepp Bierbichler kritisiert am 27. Juli 2015 bei seinem "Überraschungs-Auftritt auf der Kundgebung gegen die bayrische Errichtung von Ausreiselagern für Roma die scharfzüngige Rhetorik der CSU in der Flüchtlingspolitik. Hier der Wortlaut seiner Rede [pdf] auf der von Bellevue di Monaco organisierten Veranstaltung.

Aus 'Hinterland', # 30/2015, Seite 50 f.
© Bayerischer Flüchtlingsrat
Foto: Patrick Wild


Tausende aus unserem Land sind vor zwei Generationen vor staatlichem Terror ins Ausland geflohen, um ihr Leben zu retten, und Millionen, denen diese Flucht nicht mehr gelungen ist, sind durch ihre Ermorderung gezwungermaßen zum Stachel der Erinnerung im Erbfleisch der Nachgeborenen geworden - und haben sich damit posthum und ungefragt die Erziehung der Sprösslinge ihrer Mörder zu möglicherweise sozial agierenden Menschen übertragen bekommen. Diese Nachgeborenen sehen sich gerade zum ersten Mal wirklich vor die Probe aufs Exempel gestellt.

Tausende begehren Aufnahme in dieses Land, ihrerseits auf der Flucht vor Krieg und staatlichem Terror in ihren Ländern. Die theoretische Erziehung will praktisch umgesetzt werden. Das erzeugt Stress. Die Probe heißt: Hat der Stachel im Fleisch der Erinnerung bei den Sprösslingen Früchte getragen?

Knapp und ohne Sentimentalität hat Walter Benjamin dieses Erinnern formuliert, bevor er sich, aus Angst vor der Auslieferung an die Mörder, in den Freitod geflüchtet hat: "Vergangenes historisch artikulieren heißt (...) sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.">

Einer kürzlich erfolgten Umfrage nach haben sich 52 Prozent der Deutschen für weitere Hilfeleistungen für Flüchtlinge ausgesprochen. Das deutet darauf hin, dass die posthume Erziehung durch die Ermordeten bei den Nachkommen der Mörder Früchte zu tragen beginnt.

In dieser Situation, die ohne Zweifel zugespitzt ist, denn es gibt auch Flüchtlinge, die aus rein materieller Not flüchten – (hier sei angemerkt: Wer täte das nicht, der in solche Not gerät? Es handelt sich hier um einen Überlebenstrieb. Das lässt sich bei dem vom System erwünschten Trieb der Gewinnmaximierung weniger selbstverständlich behaupten) – da also auch Flüchtlinge, die wirtschaftlicher Not entgehen wollen, in Bayern ankommen, kann es möglich sein, dass bei der Unterbringung Prioritäten im Verhältnis zu den Flüchtlingen aus Kriegsgebieten gesetzt werden müssen.

Um Probleme verständlich zu machen und zu bewältigen haben wir die Sprache. Es ist eine schöne, mit genau zeichnenden Worten gesegnete Sprache, unsere Muttersprache, mit deren Hilfe die schwer zu verstehenden Dinge verständlich gemacht werden könnten. Aber die bayrische Landesregierung greift zwar nicht zum Sprachschatz der Vergangenheit – nein, das tut sie nicht – sie modernisiert diesen Sprachschatz und spricht von Aufnahmezentren, mit deren Hilfe „massenhafter Asylmissbrauch“ verhindert werden soll. Wenn man diese drei Worte AUFNAHMEZENTREN und MASSENHAFTER ASYLMISSBRAUCH nebeneinander stellt, klingt die Vergangenheit schon wieder durch. Denn das Aufnahmezentrum ist mit einem tendenziösen Inhalt gefüllt, dessen monströse Bedeutung man vielleicht versteht, wenn man die Vergangenheit bewusst herbei holt: Man stelle sich vor, die sechs Millionen von Deutschen in Lagern Ermordeten wären rechtzeitig geflüchtet. Wäre es mit unsrem heutigen Wissen möglich, nachträglich über sie von Menschen zu sprechen, die massenhaft missbräuchlich Asyl beantragt hätten?

Wir als Deutsche können es uns vor der Völkergemeinschaft nicht mehr leisten, ohne abzuwägen zu sprechen. Wir müssen unsere Worte auf die Waagschale legen. Das hat die Geschichte uns auferlegt.

Sie wissen, die von der bayrischen Staatsregierung, die alle von der CSU sind und zuvörderst die Lernunwilligen unter den Nachkommen der Mörder umgarnen wollen mit ihrem Sprachgebrauch – sie wissen, dass es vor allem Sinti und Roma sind, die aus den von ihnen, den Politikern, sogenannten sicheren Herkunftsländern zu uns flüchten. Und deshalb wissen sie auch, dass sie die Nachkommen der in den sogenannten Zigeunerlagern Ermordeten sind. Wäre es da nicht naheliegend, die Worte, mit denen diese schwierige Situation erklärt werden will, besonders vorsichtig zu wählen?

Es wäre mittlerweile undenkbar – und das ist gut so, es zeigt, dass die Erziehung durch die Toten wirkt – es wäre undenkbar, dass ein bayrischer Politiker das Wort „Asylmissbrauch“ in den Mund nähme und ihm mit dem Wort „massenhaft“ Wirkungskraft verliehe, wenn es sich um die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge handeln würde. Sind die Mitglieder der bayrischen Regierung so resistent gegen die Erziehung durch die Toten, die selber immer wieder anzumahnen sie ja vom wirtschaftlichen Welthandel gezwungen sind, dass sie gar nicht merken, welch selektiver Wortwahl sie aufsitzen? Auch die Sprache birgt, wenn man glaubt, sich ihrer schludrig bedienen zu dürfen, die Gefahr, sich selektiv zu verselbständigen. Und plötzlich steht man am globalen Pranger. Um nicht zu sagen: Auf der Rampe.

Die Weltgemeinschaft nämlich hört, trotz Exportweltmeisterschaft, der Sprache der Deutschen immer noch genau zu.

Es wäre für den Wirtschaftsstandort Bayern – der doch unser gutes Leben als bayrische Staatsbürger garantieren soll, und so auch die Aufnahme von noch mehr Flüchtlingen ohne weiteres ermöglichen würde – gewiss nicht von Nachteil, wenn die Mitglieder der bayrischen Staatsregierung sich eines wählerischen, also feinsinnigen Umgangs mit der deutschen Sprache befleißigen würden, statt des gerade wieder geübten sprachtechnischen Hauruckverfahrens, das nur der Rampe dient, der Selektion: Die einen, die von der selektiv benutzten Sprache zu Nutzlosen Erklärten, sollen mit ihr ausgegrenzt werden, damit die anderen, die vermeintlich Nützlichen, also die Idioten, auf deren Kosten für die Stimmabgabe gewonnen werden.

Christlich ist das nicht. Vielleicht ist es neochristlich. Dann befände sich diese Haltung in der Nähe von neoliberal und neonazistisch. Ich glaube, in die Nähe des zweiten Begriffs will nicht einmal die CSU geraten. Sie sollte sich dann auch sprachlich davon deutlich abgrenzen. Dass in diesem Zusammenhang mittlerweile auch Ministerpräsidenten der Grünen und der SPD auf ähnliche Weise an ähnlichen Forderungen herum formulieren wie der bayerische Ministerpräsident, das relativiert nicht dessen Sprachgebrauch, es dokumentiert die fortschreitende Verlotterung im Umgang mit der deutschen Sprache durch das politische Führungspersonal.<