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Wachhunde weinen Krokodilstränen | 13. September 2015 |
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Wenn von "Schleppern" oder "Schleusern" die Rede ist, bekommt die öffentliche Meinung Schaum vorm Mund. Offenbar ist kein Attribut niederträchtig genug, um die "Gauner", die "bedenkenlos handelnden Profis" oder "kriminellen Vereinigungen" von "Menschenschmugglern" auch angemessen zu verunglimpfen. Kein Zweifel, daß sie alle zumindest zur "Russen-Mafia" gehören. Und keine Frage, daß Vergehen gegen das herrschende Grenzregime nicht hoch genug zu bestrafen sind. Eine Widerrede.
Schwierige Reisen erfordern umfangreiche Vorbereitungen. Erst recht, wenn die Reiseroute über eine oder mehrere Grenzen führt. Wer keine Chance hat, in Besitz offizieller Papiere zu gelangen, ist auf die Erfahrung und die Fertigkeiten von professionellen Helfern angewiesen. Wie zu hören ist, erledigen diese den Grenzübertritt, falls nötig, formlos oder ohne lästigen Papierkram. Eigentlich handelt es sich um die normalste Sache der Welt. Wer würde schließlich heute freiwillig auf die Idee kommen, seine Urlaubs- oder Dienstreise allein auf sich selbst gestellt anzutreten, und baut nicht wie selbstverständlich auf die Hilfe von Reiseveranstaltern und Verkehrsbetrieben, die die Sache professionell betreiben? Daß diese Unternehmen über ein internationales Netz von Kontakten sowie Partner in aller Welt verfügen, welche die in Auftrag gegebene Dienstleistung in den Transit- und Zielländern abwickeln, ist eher hilfreich als verabscheuenswert. Selbst daß sich unter der Vielzahl an erfolgreichen und seriösen Unternehmen mitunter auch "schwarze Schafe" mischen, führt in der Regel nicht dazu, die gesamte Branche pauschal zu verurteilen, sondern dazu, mehr Sicherheit für die Kunden zu verlangen.
Empörung allerdings herrscht, sobald es sich bei den Passagieren um Menschen handelt, deren Herkunftsländer außerhalb "Schengens" liegen; sobald es sich um Menschen handelt, die vor Hunger, Elend, Krieg fliehen, die politisch verfolgt werden. In der Sprachregelung der Innenminister und deren Claqueure sind diese Menschen nicht Opfer von Unterdrückung und Ausbeutung, nicht Opfer eines menschenverachtenden Grenzregimes, das ihnen selbst in höchster Not den freien Zugang verwehrt, sondern die Opfer ihrer Fluchthelfer, kurz: "Schleuseropfer". So wird der bayerische Innenminister Günther Beckstein, bekannt als Vorreiter in Sachen Abschiebungen, nicht müde zu betonen, eigentlich gehe es ihm ja "um das Wohl und die Gesundheit derjenigen Menschen, die sich in den Händen skrupelloser Schleuser befänden". Quer durch alle politischen Lager scheint eines festzustehen: Schlepper sind Beutelschneider, Schlepper bereichern sich an den Ärmsten der Armen, Schlepper sind Parasiten am Elend.
Die Logik, die dahinter steckt, ist perfide: Ausgerechnet diejenigen, die für die militärische Aufrüstung der Grenzen verantwortlich zeichnen, die das Grundrecht auf Asyl faktisch fast abgeschafft haben, die jede andere Form von Einwanderung erbittert bekämpfen, heucheln Mitleid mit Flüchtlingen und MigrantInnen. Doch die Krokodilstränen dienen einem recht durchsichtigen Manöver: Ziel ist, die Flucht nach Europa so schwierig, so teuer und so gefährlich wie möglich zu machen.
Die Außengrenzen der Schengenländer werden immer schärfer kontrolliert, die Grenzen werden zusehends ins Landesinnere verlagert. Der Personalstand des "Bundesgrenzschutzes" an der deutschen Ostgrenze stieg in den vergangenen fünf Jahren um mehr als 3000 Beamte auf 5753 (1996). Und auch das technische Gerät zur Überwachung der Grenze wird ständig aufgestockt: die Zahl der Wärmebild-Kameras erhöhte sich von 66 auf über 100, mobile Computer-Terminals und 75 zusätzliche Spürhunde werden in Dienst genommen und Nachsichtgeräte an die Grenzer verteilt. Es gibt Patrouillenboote, Hubschrauber und die vielgepriesenen CO²-Meßsonden zum Aufspüren blinder Passagiere in LKWs. Aber auch im Landesinneren gibt es viel zu tun: Eine 30-Kilometer-Zone wird per Schleierfahndung ebenso unter verschärfte Beobachtung der "Sicherheitskräfte" gestellt wie die Knotenpunkte des Verkehrsnetzes und der Innenstädte. Überall sollen "Illegale" Gefahr laufen, kontrolliert zu werden: am Bahnhof, in der Fußgängerzone, auf Überlandstraßen und in Rasthöfen.
Der unmitttelbare Effekt ist: je mehr Grenzbeamte und Botschaftsbeamte bestochen und je mehr Grenzen überschritten werden müssen, je komplizierter und aufwendiger die Flucht ist, je länger sie somit dauert, desto höher sind Auslagen und Kosten für die Fluchthelfer. Und dies schlägt sich in erster Linie auf den Preis für eine professionell begleitete Flucht nieder. In zweiter Linie dürfte davon die Erfolgsquote von Flüchtlingen betroffen sein, die sich alleine auf den Weg machen. Und ein weiteres Resultat ist, daß über den Preis und aufgrund des Fluchtaufwandes diejenigen unter den MigrantInnen ausgesiebt werden, die die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes am ehesten befriedigen, also junge alleinreisende Männer. Buchstäblich auf der Strecke bleiben Familien, Frauen mit Kindern, ältere Menschen.
Die offiziellen Zahlen des Bundesinnenministeriums bestätigen dieses Bild: von den 27.024 ertappten "illegalen Grenzgängern" des Jahres 1996 ließen sich nur 7.364 von Fluchthelfern über die Grenze bringen, von denen wiederum 2.215 geschnappt wurden. Fast 100.000 Personen wurden bereits an der Grenze zurückgewiesen. Wenn man nun von der polizeieigenen Theorie einer "vier- bis fünfmal höheren Dunkelziffer" ausgeht, kommt man auf beachtliche Zahlen von MigrantInnen, denen trotz allem die Einreise nach Deutschland gelingt. Aber auch das Zerrbild der "Schleuserkriminalität" wird durch diese Zahlen erheblich relativiert. Die Erfahrung und die Berichte von MigrantInnen belegen, daß einen Großteil der Fluchthilfe Exilorganisationen, die Communities oder nächste Verwandte und Freunde übernehmen. Falls tatsächlich professionelle Hilfe gegen ein Entgelt beansprucht wurde, handelt es sich zumeist um durchaus reelle Geschäftsbedingungen, nicht selten mit Erfolgsgarantie und Rabattierungen, beziehungsweise Nachlässen, wie sie auch in der gemeinen Tourismusbranche geläufig sind.
Natürlich gibt es, wie in jedem anderen Gewerbe, unter den kommerziellen Fluchthelfern auch solche, die ihre Arbeit schlecht machen und die Menschen, die sich ihnen anvertraut haben, in Gefahr oder üble Abhängigkeitsverhältnisse bringen. Manchmal endet die Reise nach Europa für MigrantInnen in sklavenähnlichen Arbeitspflichten und oder in erzwungener Prostitution. Solchen Mißbrauch zu bekämpfen kann aber nur heißen, faire Alternativen zu forcieren, seriöses Geschäftsgebaren anzumahnen oder gegebenenfalls eben selbst aktiv zu werden.
Die Kampagne "Kein Mensch ist illegal" fordert vor diesem Hintergund dazu auf, "unabhängige Strukturen, die MigrantInnen bei der Einreise unterstützen" zu schaffen - und zwar aus politischen Gründen und jenseits kommerzieller Interessen und staatlicher Kontrolle. "Das Recht auf Freizügigkeit, das Recht auf Einwanderung ist ein Recht, das für alle gelten muß. Fluchthilfe versucht, dieses Recht auch praktisch durchzusetzen". Das bedeutet schließlich nichts weniger als, nicht bei individuellen Hilfsaktionen sozusagen "in letzter Sekunde" stehen zu bleiben, sondern: "Netzwerke im Untergrund aufzubauen, Solidarität zu praktizieren, unter den Außenmauern des vereinten Europa immer wieder hindurchzukriechen, Gänge zu graben...", wie es die "Rom e.V." aus Köln schon 1994 formulierte. Ein solches Netzwerk von Fluchtwegen und Fluchtburgen ist heute nach wie vor ein Wunschtraum, dennoch häufen sich unter dem Druck der Illegalisierung lokale Zufluchtsprojekte und "autonome Grenzgänge". Diese Initiativen vor Kriminalisierung zu schützen, öffentlich zu propagieren sowie regional und überregional zu vernetzen ist Ziel der Kampagne.
Die Motive für Fluchthilfe sind bislang überwiegend pragmatisch und bestehen hauptsächlich aus Weiterfluchtangeboten, um der drohenden Abschiebung zu entkommen, oder Rückführungen von bereits abgeschobenen MigrantInnen. Je größer allerdings der Selektionsdruck an den Grenzen und in den Transitländern der Migration wird, umso wichtiger wird es, aus prinzipiellen Erwägungen heraus Fluchtmöglichkeiten gerade für diejenigen Menschen zu erkunden, die sich professionelle Angebote nicht oder nicht mehr leisten können.
Im neuen Ausländergesetz, das im Sommer den Bundestag passiert hat, sieht der Gesetzgeber schließlich kaum eine Unterscheidung mehr vor zwischen Verstößen gegen das Aufenthaltsrecht, die aus kommerziellen Interessen begangen wurden, und solchen aus politischen oder humanitären Motiven. Bayerische Gerichte setzen bereits seit geraumer Zeit bei Fluchthilfe niedere Beweggründe wie "Vorteilsnahme" sprich: Bezahlung pauschal voraus. Spätestens hier wird deutlich, daß es den Wachhunden der Festung Europa mit ihrer scheinheiligen Kampagne gegen das "Schleuserunwesen" nur darum geht, den Migrationsbewegungen per Strafrechtskatalog Herr zu werden.
Wer dagegen das Recht der MigrantInnen auf freien Zugang verteidigen will, muß auch ihr Recht auf eine möglichst sichere und gefahrlose Einreise verteidigen. Angesichts von Dutzenden von Toten an den deutschen Ostgrenzen Jahr für Jahr, angesichts eines immer barbarischeren Grenzregimes spielt die Frage, welcher Aufwand und gegebenenfalls, welche Geldsumme nötig ist, den Grenzschergen zu entkommen, in der Tat eine nachgeordnete Rolle.
['über die grenze], Zeitung der Kampagne 'kein mensch ist illegal', Frühjahr 1998
Bundesverband Schleppen & Schleusen, Winter 2000