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Unangebrachter Defätismus | 05. November 2019 |
Speichern: [mp4 - 251.7 MB] -- Sparte: Videocast - UID: 20191105
Karlsruhe: bei Hartz-IV-Sanktionen spielten individuelle Freiheitsrechte bisher keine Rolle.
Von Christel T.
Podcast Gespräch, 95 min, Deutschland, May 16th 2019,
Christel T., Theo u.a.: H4-Podcast [yt]
Am 5. November will das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sein Urteil über Sanktionen vom Jobcenter sprechen. Dass es Sanktionen nicht als verfassungswidrig verbieten wird, lässt sich fast so sicher prognostizieren wie die Schwerkraft.
Man darf sich keine Illusionen machen: Die Akte würde heute noch in Karlsruhe verschimmeln, wenn der Impuls nicht aus der Politik gekommen wäre. Die eine Million Sanktionen pro Jahr sind es nicht, die das BVerfG zum Handeln bewegten. Sondern das anhängige Verfahren wurde - zweimal - der Politik aus dem Weg geräumt. 2016 war es der Hartz-IV-Rechtsverschärfung im Weg, und wurde unter einem Vorwand abgebügelt, und nach der erneuten Vorlage störte es den diesjährigen Rohrkrepierer von Hartz-Reform der SPD.
Die Verhandlung im Januar war nicht geeignet und zielte nicht darauf ab, relevante Sachverhalte zu erhellen oder offene Rechtsfragen zu klären. Schon zur Einleitung der Verhandlung, also leicht verfrüht, kündigte der Vorsitzende Stephan Harbarth an, man werde nicht das »bedingungslose Grundeinkommen« einführen. Das ist eine CDU-Chiffre für die Abschaffung von Sanktionen.
Prognosen, die man aus der Realität bezieht, erlauben ein gezieltes Eingreifen. Doch in den Jahren vor der Verhandlung war vorwiegend die Ideologie die Quelle von Prognosen: Das BVerfG sei eben eine bürgerliche Institution und würde daher nicht die Grundrechte der Erwerbslosen schützen. Eine solche Prognose zeigt keinen Handlungsansatz und fordert zum Defätismus auf, mehr noch: Sie entschuldigt das BVerfG schon im Vorhinein und verhindert, dass ein angemessen kritischer Maßstab, nämlich der Schutz von Grundrechten, angelegt wird. An Aufrufen, sich gar nicht erst an die Justiz zu wenden, hat es nicht gefehlt, dafür an realen Vorschlägen, wie Sanktionen anders abgeschafft werden können.
Dennoch haben sich in den Jahren vor der Verhandlung tausende Menschen gegen Sanktionen engagiert. Argumentiert wird mit dem Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum, und damit, wie gemein die Sanktionen gegen die "armen" Erwerbslosen sind. Argumente für die individuellen Freiheitsrechte der Betroffenen sind dagegen nicht in der Breite aufgenommen worden. Dass das BVerfG sich einen schlanken Fuß machte und die Eingriffe in die freie Berufswahl und die körperliche Unversehrtheit gar nicht erst erwähnte, die in der Richtervorlage beklagt sind, ist vor dem Hintergrund dieser fehlenden Auseinandersetzung zu sehen.
Dabei nimmt der diktatorische Autoritarismus der Jobcenter schon comichafte Formen an. Auf der einen Seite eine Verwaltung, der es um keinen Preis zugemutet werden kann, sich an geltende Gesetze zu halten, und deren Beschäftigte sicher sein dürfen, niemals für ihre Verstöße belangt zu werden, selbst wenn sie die ihnen Unterworfenen damit in den frühen Herztod oder in den Selbstmord treiben. Auf der anderen Seite die Betroffenen, die sich von dieser Verwaltung vorhalten lassen sollen, dass man sich schließlich an Regeln halten und es anderenfalls Konsequenzen geben müsse.
Wenn Sanktionen jetzt als verfassungskonform abgesegnet werden, dann ist das ein Rückschritt bis hinter das Urteil von 2010, als das BVerfG das Recht auf ein Existenzminimum begründete. Dieses Pulver ist dann verschossen.
Aus diesem hausgemachten Mustopf kommt man nur mit einem neuen Ansatz gegen Sanktionen heraus. Sanktionen vom Jobcenter greifen in die Berufsfreiheit ein, in die Vertragsfreiheit, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, ja auch in die Gewerbefreiheit - und sie diskriminieren Erwerbslose. Die oft zitierte Ausgrenzung im Zusammenhang mit individuellen Freiheitsrechten ist diesen nicht immanent, sondern widerspricht ihnen. Wird die Vertretung dieser Positionen abgelehnt, trifft das zuerst gerade diejenigen, deren Rechte am meisten beschnitten werden, und deren Ausgrenzung man zur Begründung der Ablehnung zitiert. Der Reizwortcharakter dieser Begriffe ist daher eine weit geringere Gefahr als das massenhafte Schreiend-Wegrennen der Erwerbslosen vor einem linken Spektrum, das bisher wenig Begeisterung für ihre individuellen Rechte zeigte.
Textquelle: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 653, von Christel T.