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to top Die vier Jahreszeiten in Berlin
01. May 2021


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Die vier Jahreszeiten in Berlin - von Christiane Rösinger
aus dem Roman: Das schöne Leben
Fischer Taschenbuch Verlag, 2008, S. 96-99

Es ist nicht leicht in Berlin, und das Leben hier fordert den ganzen Menschen. Das Jahr geht vom Winterschlaf in die Frühjahrsmüdigkeit, von der Frühjahrmüdigkeit ins Sommerloch, vom Sommerloch in die Herbstdepression und dann direkt in den Winterschlaf über - und zwischendurch gibt's Momente, die sind gut.


Dem Frühling dämmert man auf dem Sofa entgegen, ruht meditierend im Sessel und starrt vom Schreibtisch aus auf die Straße. Februar, März, April vergehen zäh, erst im Mai kommt eine trügerische Hoffnung auf.

Der Mai wurde, jahreszeitlich bertrachtet, eigentlich schon immer überbewertet. Der Wonne- Liebes- und Frühlingsmonat ist zwar der, in dem in der Natur das stärkste Wachstum stattfindet, aber ist das Grund genug für die ganzen albernen Maibräuche, die doch nur den sinnlosen Zwecken des Winteraustreibens und der Partnervermittlung dienen?

In der katholischen Kirche ist der Mai ein Marienmonat, da werden Maiandachten zu Ehren der heiligen Gottesmutter abgehalten. Der 1. Mai wiederum ist der Schutztag Josefs des Arbeiters.


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In Berlin ist alles anders: Da feiert man seit 1987 den revolutionären Ersten Mai. Mai-Veteran*innen erinnern sich auch heute noch gerne an die 750-Jahr-Feier der Stadt und das Straßenfest am Lausitzer Platz, als man später am Abend auf dem Hügel vor dem neuen Spreewaldbad die Tränengaskartuschen zurückschleuderte, während gegenüber in der Hauptstadt der DDR ein Freudenfeuerwerk angezündet wurde.

Nachts tauschten hocherfreute Rentner mit Gelegenheitsautonomen Schnaps gegen Kaffee, eine große Euphorie herrschte unter den Menschen, ein seliges Nehmen und Geben. Andere klopften schon manisch mit irgendwelchen Gegenständen an die Hochbahn. Im Bollemarkt schritt man kniehoch durch einen Matsch von zertrampelten Waren, glitt auf Erbsen in Tomatenmark aus und nahm dann pflichtschuldig das Wenige, was noch zu plündern war, mit: mehrere Apfelkornfläschchen an der Kasse zu 1 Mark 20 das Stück! Ja, auch da war schon eine kleine Enttäuschung mit dabei, und enttäuschend verliefen seither fast alle Erste-Mai Feiern.

Romancover: Christiane Rösinger : Das schöne Leben - Fischer Taschenbuch Verlag Der Bollemarkt brannte in der gleichen Nacht noch bis auf die Grundmauern nieder. Schuld daran war aber, wie man heute weiß, ein zufällig des Weges kommender Pyromane.

Das immer wieder schöne Bild der vielen roten Fahnen am Heinrichplatz in Kreuzberg konnte auch in den späteren Jahren nicht darüber hinwegtäuschen, dass versteinerte Rituale diesen Tag belasteten und eine Verrohung der Sitten stattfand.

Der alte Maibrauch, zur Vertreibung des Winters brennende Strohräder von Bergen herabzurollen, wurde in Kreuzberg Jahr um Jahr als Kleinwagenabbrennen in die Moderne umgesetzt. Es sollten auf der Autonomenschule Sonderkurse für unpolitisch-erlebnisorientierte Jugendliche angeboten werden, in denen die Grundregeln des Straßenkampfs in leicht verständlicher Form unterrichtet werden. Kleine Merksätze wie «Es sagt das Zündel ABC: nur Mercedes, Porsche, BMW» und Benimmregeln wie «Die guten Militanten verschonen die Passanten» könnten da ethische Grundsätze vermitteln.

Der revolutionäre Erste Mai litt seit den Gründungstagen um 1987 von Jahr zu Jahr an einem immer stärkeren Imageproblem. Man hatte einiges versucht, zum Beispiel nach der Maueröffnung durch eine Verlagerung der Festivitäten in die östlichen Bezirke ein wenig Abwechslung zu schaffen. Schließlich boten der Hackesche Markt oder die Friedrichstraße genug Glasflächen, und es ließen sich dort bald tiefere Symbole des verhassten Kapitalismus finden, als die seit Jahrzehnten geschundene kleine Bushaltestelle am Mariannenplatz.

Allein, es wurde nichts draus. Seit den Neunzigern tanzen zwar am 30 April ein paar Hippiestudentinnen am Mauerpark durchs Feuer, und die Betrunkenen zerschlagen danach ein paar Bierflaschen an der Eberswalder Straße, aber der Erste Mai blieb in Kreuzberg.

Textquelle: Das schöne Leben - Roman, Fischer Taschenbuch Verlag, 2008, S. 96 - 99, von Christiane Rösinger